HT 2023: Missbrauch als Thema der Zeitgeschichte – Perspektiven und Herausforderungen

HT 2023: Missbrauch als Thema der Zeitgeschichte – Perspektiven und Herausforderungen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Christoph Kösters, Kommission für Zeitgeschichte, Bonn

Falls es noch eines Beweises für die Aktualität des Sektionsthemas bedurft hätte, so lieferte ihn der Historikertag selbst mit seinem enormen Interesse an einer Diskussionsveranstaltung zu sexueller Übergriffigkeit und Machtmissbrauch an Universitäten und in Wissenschaftseinrichtungen.1 Das gravierende Problem des Missbrauchs Minderjähriger durch katholische Kleriker, das bereits seit Beginn des 21. Jahrhunderts auf der Tagesordnung der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit steht, hat in jüngster Zeit auch die Geschichtswissenschaften erreicht. Am Vorabend der Sektionsveranstaltung ließ von neuem eine Pressemeldung aufhorchen: Franz Kardinal Hengsbach, der 1991 in hohem Ansehen verstorbene vormalige Bischof von Essen soll in zwei Fällen 1954 bzw. 1967 Minderjährige sexuell missbraucht haben soll.2

Wie schreibt man eine Zeitgeschichte des sexuellen Missbrauchs? NICOLE PRIESCHING (Paderborn) sprach in ihrer kurzen Begrüßung der über 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer von einem „Seismograph[en] für Veränderungsdynamiken der Gesellschaft“. Das Missbrauchsgeschehen in der katholischen Kirche müsse auch aus dem binnenkirchlichen Rahmen herausgelöst und als Teil einer deutschen Gewaltgeschichte verstanden werden. Die damit verbundenen Herausforderungen berührten nicht nur Fragen einer fragilen Quellenüberlieferung aus verklausuliert sprechenden kirchlichen Aktenfragmenten einerseits und traumatisch belasteten Erinnerungen noch lebender Betroffener andererseits. Zumal im Falle der Oral History bedürfe es in besonderer Weise der Methodenreflexion, aber auch des notwendigen interdisziplinären Austausches. Schließlich sei zu überlegen, in welcher Weise Betroffene am wissenschaftlichen Forschungsdiskurs beteiligt werden könnten und sollten.

Seit 2021 bündelt ein bei der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn angesiedelter „Arbeitskreis Missbrauchsforschung“ die kaum vergleichbaren Befunde juristischer, sozial-, erziehungs- und geschichtswissenschaftlicher Provenienz, vernetzt bestehende Forschungsprojekte und entwickelt Standards für eine zeitgeschichtlich fragende Missbrauchsforschung.3 Die Sektion spiegelte Ergebnisse dieses erfolgreich vernetzten Austausches wider: Entlang von drei Zugängen – Oral History und Betroffenenperspektive (1), Aufarbeitung im internationalen Kontext (2), innerdisziplinäre Fragen und interdisziplinäre Vernetzung (3) – rückten die Erfahrungen dreier, an den Universitäten Osnabrück (Jürgen Schmiesing), Paderborn (Christine Hartig) und Zürich (Monika Dommann / Marietta Meyer) betriebener Projekte und einer an der Universität Münster entstandenen, bereits veröffentlichten Studie4 (Thomas Großbölting) in den Mittelpunkt. Erweitert wurden die Befunde und Thesen durch Erfahrungen aus der Erforschung der Geschichte von Heimkindern (Uwe Kaminsky) und einer im Blick auf die Wirkungsgeschichte sexuellen Missbrauchs grundlegenden Revision reformpädagogischer Wurzeln der deutschen Jugendbewegung (Susanne Rappe-Weber). Dass die Kommentierung neben der interdisziplinären Perspektive (Michelle Böhlke) vor allem die Perspektive der Betroffenen (Katharina Kracht, Karl Haucke) stark machte, führte bereits eine Möglichkeit der Betroffenenpartizipation vor Augen und gab dem Thema jenseits von Statistiken Gesicht und Stimme.

Welchen Ertrag für die Missbrauchsforschung im Besonderen und für die Zeitgeschichtsforschung im Allgemeinen erbrachten nun die einzelnen Statements und deren Kommentierung?

1. Oral History und zeitgeschichtliche Kontextualisierung

Zweifellos kommt den Zeugnissen der Betroffenen für die historische Rekonstruktion des Missbrauchsgeschehens großes Gewicht zu. CHRISTINE HARTIG (Paderborn) plädierte mit Blick auf ihre mit Methoden der Oral History durchgeführten über 50 Interviews dafür, sie zu einer maßgeblichen Quellengrundlage zu machen. Die geschichteten Ebenen des Erlebens von sexueller Gewalt, des Erinnerns der Taten und ihres Erzählens tragen nicht nur den Erwartungen der Betroffenen Rechnung; im historischen Längsschnitt erlauben sie auch, kritisch unterschiedliche Phasen einer – stark geschlechterunterscheidenden – Wahrnehmung und Auseinandersetzung in die Geschichte der Bundesrepublik und der katholischen Kirche einzuschreiben. Uwe Kaminsky (Berlin) unterstrich ferner, eine aktengestützte historische Kontextualisierung der verschiedenen „Missbrauchsräume“ und deren – in Fall der Heimkinder pädagogischen – Rahmung. Es bestehe eine „strukturelle Nichtidentität“ der Interessen von Wissenschaft und sogenannter „Aufarbeitung“; die Zeitzeugen-Quellen sprächen nicht für sich.

In ihrem Kommentar schloss KATHARINA KRACHT (Bremen) an Frau Hartigs Ausführungen an und hob den Akt des erinnernden Erzählens als wesentlichen Beitrag von Betroffenen zur historischen Forschung heraus. Die Historiker:innen forderte sie auf, die besondere Sensibilität der Betroffenen für die verklausulierte Sprache (wie beispielsweise die Redeweise von einer „Liebesbeziehung“) in den kirchlichen Akten zu nutzen. Im Austausch mit Betroffenen könne eine wissenschaftliche Reflexion über bestimmte Semantiken an Erkenntnis gewinnen.

2. Perspektiven der Erforschung sexualisierter Gewalt und Machtdiskurs des Katholischen

MONIKA DOMMANN (Zürich) und MARIETTA MEYER (Zürich) stellten ihr Pilotprojekt zur Schweiz vor, in welchem sie alle drei sozialen Räume katholischen Missbrauchsgeschehens in den Blick genommen haben: den pastoralen Raum der Gemeinden, den Raum der Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen sowie die Räume der Orden und neuen Geistlichen Gemeinschaften.5 Damit wird eine Fokussierung bisheriger Forschungen allein auf den Klerus bzw. die einzelne Diözese zugunsten einer übergreifenden nationalen Perspektive überwunden, die zudem auch die Beschränkung auf den sexualisierten Missbrauch von Minderjährigen aufgibt. Die Erforschung des Missbrauchsgeschehens in der katholischen Kirche der Schweiz wird als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses und der rechtlichen Rahmenbedingungen verstanden. Der partizipativen Stimme der Betroffenen komme bei der „historischen Wahrheitssuche“ die kritische Bedeutung zu, die Binnenstrukturen und -semantiken der kirchlichen Quellenüberlieferungen aufzubrechen. Strategisch sei es daher im Falle kirchlicher Auftragsforschung angeraten, zunächst im Rahmen einer Pilotstudie die ernsthafte Bereitschaft der kirchlichen Auftraggeber auszuloten, einen uneingeschränkten Aktenzugang zu gewähren, die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Ergebnisse zu garantieren und den künftigen Zugang zu den erhobenen Forschungsdaten durch Verwahrung in einem nicht-kirchlichen Archiv sicherzustellen.
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Der Zeithistoriker THOMAS GROßBÖLTING (Hamburg) stellte Relevanz der Missbrauchsforschung für die Geschichtswissenschaften vor dem Hintergrund der Münsteraner Studie heraus. Die im 20. Jahrhundert gesteigerte, sakral legitimierte „Pastoralmacht“ (Michel Foucault) des „Guten Hirten“ als Kern des Katholischen eröffne exemplarisch die Perspektive für Analyse und Verstehen von sozialen Machtdynamiken und sexuellem Machtmissbrauch: Nicht obwohl, sondern weil die Betroffenen katholisch gewesen seien, hätten sie sexuell missbraucht werden können.6 Vergleichbare „geschichtete Hierarchien bedeutungsvoller Strukturen“ (Clifford Gertz) gälte es auch im Bereich des Sports oder der (Familien-)Erziehung zu analysieren.

In ihrem Kommentar machte MICHELLE BÖHLKE (Osnabrück) mit Verweis auf den im Oktober 2021 von der Unabhängigen Aufarbeitungskommission CIASE in Frankreich vorgelegten Bericht7 auf die Vorzüge aufmerksam, die interdisziplinär agierende Forschungsteams angesichts der Komplexität des Missbrauchsgeschehens besitzen. Indes hänge viel vom Zuschnitt der Forschungsperspektive ab: Ob klein- oder großräumig, ob mit konkreter oder offener Fragestellung – ein einheitliches Forschungssetting, das auch den internationalen Vergleich ermöglichen könnte, sei noch nicht in Sicht.

3. Interdisziplinärer Vergleich und fachwissenschaftliche Herausforderungen

Der Beitrag von SUSANNE RAPPE-WEBER (Ludwigstein) knüpfte an Großböltings Forderung nach vergleichender Forschung unmittelbar an: Sehr konkret wurden die als Pioniere der Reformpädagogik verehrten Hans Blüher und Gustav Wyneken als autoritäre Führer und Päderasten entlarvt. Deren sexueller Missbrauch von Jugendlichen unter der Ägide eines „pädagogischen Eros“ konterkarierte die reformpädagogischen Ziele und jugendkulturellen Leitbilder der deutschen Jugendbewegung. Dies tat aber ihrer wirkungsgeschichtlich ikonengleichen Verehrung bis weit in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft (Alexej Stachowitsch) und in der während der 1970er-Jahre blühenden Pädophilen-Szene („Pädos“) offenbar keinen Abbruch. Bei der in diesen Kreisen zirkulierenden Zeitschrift „Die Eisbrecher“ handelte es sich faktisch um „kinderpornographisches Konsumgut“, wie Rappe-Weber hervorhob. Es bedurfte auch hier des Anstoßes durch Betroffene, um die kritische Aufarbeitung ins Rollen zu bringen. Eine grundlegende Revision des Narrativs von Jugendbewegung und Reformpädagogik einschließlich der Dekonstruktion ihrer „Zaubersprache“ steht allerdings noch aus.

In seiner die Sektionsvorträge beschließenden Reflexion hob JÜRGEN SCHMIESING (Osnabrück) vor allem die besonderen fachwissenschaftlichen Herausforderungen hervor, die mit dem Forschungsdesign zeitgeschichtlicher Missbrauchsforschung verbunden sind: Dazu zählen eigene Fachgrenzen überschreitende Vernetzungen, eine bleibende, weil dynamische Spannung zwischen Wissenschaftsfreiheit einerseits und Persönlichkeits- bzw. Äußerungsrechten sowie datenschutzrechtliche Bestimmungen andererseits, aber auch kommunikative Strategien medialer Vermittlung der Ergebnisse in der Öffentlichkeit. Inhaltlich sei zu bedenken: Als Teil einer Gesellschaftsgeschichte sexualisierter Gewalt dürfe die Erforschung der spezifisch katholischen Zusammenhänge die Gewalt außerhalb der untersuchten institutionellen Kontexte nicht ausblenden; das gelte zumal für den schwer zu erforschenden Missbrauchsraum „Familie“.

In seinem Kommentar würdigte KARL HAUKE (Köln) die Historiker:innen und ihre Forschungen in ihrem Bemühen, die Deutungshoheit der Täterorganisationen zu brechen. Historische Aufklärung diene der Erinnerung des Unrechts und leiste einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich die Verantwortlichen „nicht mehr wegducken“ könnten. Die Partizipation der Betroffenen könne helfen bei der Transformation in eine betroffenheitssensible Wissenschaftssprache. Hauke mahnte, sich als Historiker:in einer verantwortungsbewussten Parteinahme zugunsten der Betroffenen nicht durch den Rekurs auf eine vermeintlich neutrale Wissenschaft zu entziehen. Vielmehr gelte es, das Missbrauchsgeschehen stets von seiner Wirkung her zu sehen.

Am Ende blieb es bei wenigen Nachfragen, etwa nach der Relevanz ländlicher und städtischer oder katholischer Mehrheits- und Minderheits-Räume für die Stabilität klerikaler Pastoralmacht und des mit ihr verbundenen Missbrauchsgeschehens. FRANK KLEINEHAGENBROCK (Bonn) schloss die Sektion mit einem Dank für die sehr dichte Veranstaltung. Er lud dazu ein, die mehrfach angesprochene Vernetzung voranzutreiben und den begonnenen Forschungsdiskurs im Austausch mit dem „Arbeitskreis Missbrauchsforschung“8 und auf einer für 2024 avisierten Tagungsveranstaltung fortzuführen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Frank Kleinehagenbrock (Bonn) / Nicole Priesching (Paderborn) / Jürgen Schmiesing (Osnabrück)

Nicole Priesching (Paderborn): Begrüßung / Einleitung

Christine Hartig (Paderborn): Oral History und „Aufarbeitung“. Intentionen und Herausforderungen für Interviewende und Interviewte

Uwe Kaminsky (Berlin): Heimerziehung als Missbrauchsraum. Oral History und Aktenanalysen an Beispielen aus diakonischen Einrichtungen

Katharina Kracht (Bremen): Kommentar

Monika Dommann (Zürich) / Marietta Meyer (Zürich): Pilotstudie „Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz“. Methodische und geschichtspolitische Überlegungen

Thomas Großbölting (Hamburg): Von „guten Hirten“, missbrauchenden Klerikern und sexualisierter Gewalt. Macht und Deutungsmacht als Vexierbild im öffentlichen Diskurs

Michelle Böhlke (Osnabrück): Kommentar

Susanne Rappe-Weber (Ludwigstein): „Pädagogischer Eros“ als Rechtfertigung für sexualisierte Gewalt in der Jugendbewegung und Reformpädagogik?

Jürgen Schmiesing (Osnabrück): Sexualisierte Gewalt als Gegenstand historischer Forschung

Karl Hauke (Köln): Kommentar

Frank Kleinehagenbrock (Bonn): Resümee

Anmerkungen:
1 53. Deutscher Historikertag, Sonderveranstaltung „metoohistory: Diskussionsveranstaltung zu Machtmissbrauch im deutschen Wissenschaftssystem“, https://www.historikertag.de/Leipzig2023/programm/veranstaltungen/3716-2/ (22.09.2023).
2 Pressemitteilung des Bistums Essen vom 19.9.2023 „Missbrauchsvorwürfe gegen verstorbenen Bischof Franz Hengsbach“; https://www.bistum-essen.de/pressemenue/artikel/missbrauchsvorwuerfe-gegen-verstorbenen-kardinal-franz-hengsbach (22.09.2023). Pressemitteilung des Erzbistums Paderborn vom 19.9.2023 „Stellungnahme zu den dem Erzbistum Paderborn bekannten Vorwürfen gegen Franz und Paul Hengsbach“; https://www.erzbistum-paderborn.de/news/stellungnahme-zu-den-dem-erzbistum-paderborn-bekannten-vorwuerfen-gegen-franz-und-paul-hengsbach/ (22.09.2023); vgl. auch Daniel Deckers, Ein Verdacht, den die Kirche nicht wahrhaben wollte, in: FAZ Nr. 221 vom 23.09.2023, S. 3.
3 Nicole Priesching/Frank Kleinehagenbrock, Missbrauchsforschung als Thema der Zeitgeschichte, in: Historisches Jahrbuch 143 (2023), S. 423–444.
4 Bernhard Frings/Thomas Großbölting/Klaus Große Kracht/Natalie Powroznik/David Rüschenschmidt, Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945, Freiburg im Breisgau 2022.
5 Monika Dommann/Marietta Meyer u.a., Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts, hg. v. der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte, Zürich 2023, https://zenodo.org/record/8315772 (22.09.2023).
6 Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, Freiburg im Breisgau 2022.
7 Jean-Marc Sauvé u.a., Les violences sexuelles dans l’Église catholique France 1950–2020. Rapport de la Commission indépendante sur les abus sexuels dans l’Église, Octobre 2021; https://www.ciase.fr/medias/Ciase-Rapport-5-octobre-2021-Les-violences-sexuelles-dans-l-Eglise-catholique-France-1950-2020.pdf (22.09.2023).
8https://www.kfzg.de/arbeitskreise/missbrauchsforschung-1 (22.09.2023).

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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